Die Sardische Aktionspartei

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Su Corvu
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Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Su Corvu »

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Die Geschichte der sardischen Bewegungen ist lang und kompliziert. Die erste sardische Partei war der Partito Sardo d'Azione, die Sardische Aktionspartei. Sie wurde nach dem 1. Weltkrieg am 17. April 1921 von ehemaligen Soldaten der Brigata Sassari gegründet, welche in Turin stationiert gewesen waren, und die dort erlebten, dass selbst die Lebensverhältnisse des städtischen Proletariats ungleich besser waren als die des Großteils der Menschen auf Sardinien. Die Aktionspartei strebte damals die allgemeine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf der Insel an und war progressiv-sozialistisch orientiert. Die Forderung nach politischer Autonomie spielte zunächst eine untergeordnete Rolle. Als die separatistischen Bestrebungen stärker wurden, führte dies zu Konflikten in der Partei, worauf u.a. der Mitbegründer der Partei, der Sozialist Emilio Lusso, die Partei verließ. Der Streit "Autonomie oder Loslösung" von Italien prägt die sardistischen Bewegungen bis heute, so entstand ab den 1970er Jahren eine Handvoll kleinerer Parteien*** als Alternative zur PSd'Az. Die Geschichte der Partei bis in die Gegenwart kann bei Wikipedia nachgelesen werden.*

Ab 1976 ist der PSd'Az dank einer Listenverbindung mit dem PCI mit Mario Melis wieder im italienischen Senat vertreten. Der PSd'Az wendet sich nun verstärkt den spezifischen Problemen der Insel zu. Melis bringt einen Gesetzesentwurf zur Institutionalisierung Sardiniens als "Zona Franca" ein und fordert Maßnahmen zur Verbesserung der Flug- und Schiffsverbindungen der Insel mit dem Festland ein, die schließlich mit dem Gesetz zur "continuità territoriale" realisiert werden.

Bei den Wahlen auf Sardinien blieb die Partei weitgehend erfolglos, nach einem Stimmenanteil von 10,4 Prozent im Jahr 1949 erreichte sie 1979 gerade einmal 3,3 Prozent. Die Wende kam Anfang der 1980er Jahre. Die Partei ist nun wieder im italienischen Abgeordnetenhaus vertreten und wird bei der Regionalwahl 1984 mit 13,8 Prozent drittstärkste Kraft. Mit Mario Melis** stellt die PSd’Az von 1984 bis 1989 nun erstmals den Präsidenten Sardiniens (in der Nachkriegszeit sind das bislang immer Christdemokraten gewesen). Melis regiert in einer Koalition mit den sardischen Kommunisten. Mit der Regierung Melis beginnt eine soziale Reformperiode auf der Insel. Die Regierung verstärkt die Brandbekämpfung durch eine Transformation des auf Sardinien operierenden staatlichen Corpo Forestale in eine regionale Schutzeinheit; es werden schärfere Gesetze zum Schutz der Jagd und des Fischfangs erlassen; der Tierschutz wird ausgeweitet, und im Umwelt- und Naturschutz beginnt die Region mit der Wiederansiedlung seltener Tierarten in den Naturparks und der statistischen Erfassung der endemischen Fauna, der Sanierung der Salzseen an den Küsten und der Wiederaufforstung.

Mit dem Ende der Ära Melis fiel der PSd'Az in den 1990er Jahren bei den Regionalwahlen wieder auf Ergebnisse um die 5 % zurück und vollzog eine radikale politische Wende nach rechts: Zur Regionalwahl 2009 verbündete sich die Partei mit Silvio Berlusconis "Il Popolo della Libertà" (PdL), erzielte 6,8 Prozent der Stimmen und war in der Regierung Ugo Cappellacci (PdL) vertreten. Die Wahlen von 2014 verlor die Rechtskoalition, der PSd'Az fiel auf auf 4,7 % zurück.

Der heutige sardische Regierungschef Christian Solinas wurde 2015 Parteivorsitzender und war seit 2009 in der Mitte-Links-Koalition unter Präsident Pigliaru als Transportminister vertreten. Bei den Parlamentswahlen von 2018 schloss die PSd’Az jedoch ein Bündnis mit der Lega Nord, welche Solinas so zu einem Sitz im Senat verhalf. Zur Regionalwahl 2019 kandidierte Solinas als Präsident des Rechtsbündnisses von Lega, PSd’Az, Forza Italia, Riformatori Sardi, Fratelli d’Italia und UdC, welches unerwartet die Wahl gewann. Solinas wurde mit 47,8 % der Stimmen zum Regionalpräsidenten gewählt, die Partei erzielte 9,9 Prozent der Stimmen und 8 von 60 Sitzen im Consiglio Regionale in Cagliari.

Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Mein persönliches Fazit zur Person Solinas und seiner Partei: Solinas repräsentiert den typischen politischen Wendehals, dem es um Beteiligung an der Macht geht. Seine Regierung ist seit gut einem Jahr im Amt und hat keinerlei besondere Leistungen vorzuweisen, das ist die schlechteste Bilanz aller sardischen Regierungen, die ich kennen gelernt habe. Dass Solinas das Land noch nicht einmal ordentlich verwalten kann, erleben wir in der Corona-Krise alltäglich. Auch der PSd'Az ist zum opportunistischen Wählerverein verkommen, dem politische Inhalte egal geworden sind und der seine sozialreformerische und antifaschistische Identität verloren und sich ausgerechnet mit den "Fratelli d'Italia" der Meloni verbündet hat. Von den Gründern der Partei bis zu Mario Melis würden sich alle im Grab umdrehen, wenn sie das hätten erleben müssen.

Anmerkungen

* Die Darstellung ist allerdings lückenhaft und die Einleitung des Artikels "Die Partito Sardo d’Azione (PSd’Az;
sardisch: Partitu Sardu) ist eine regionalistische und separatistische Partei in Italiens autonomer Region
Sardinien“ begrifflich falsch. Der (nicht 'die') PSd'Az ist keine "regionalistische" Partei, sondern in ganz Italien
aktiv und wählbar, und definiert sich seit 1969 auch nicht mehr als separatistisch.
https://de.wikipedia.org/wiki/Partito_S ... 0%99Azione

** Exkurs: 1979 wird Mario Melis ins Europäische Parlament gewählt. In diese Zeit fällt meine persönliche
Bekanntschaft mit ihm. Im Vorfeld des Vertrags von Maastricht von 1992 hatte das "Sardische Kulturzentrum
Rhein-Main" (1988 gegründet von sardischen Emigranten, darunter meine Frau) ihn und den sardischen
kommunistischen Europaabgeordneten Andrea Raggiu zu einer öffentlichen Veranstaltung zum Thema "Was
bedeutet die europäische Integration für Sardinien und die sardischen Emigranten" eingeladen. Mario Melis
stirbt am 1. November 2003 in seinem Haus in Nuoro im Alter von 82 Jahren. Näheres zu seiner Biografie
findet ihr hier: http://www.mariomelis.eu/?page_id

*** Gegenwärtig existieren außer dem PSd'Az weitere sardische/sardistische Parteien:

Im Jahr 1984 entstand der "Partidu Sardu Indipendentista Sotzialista Libertariu" (Sardische Unabhängigkeits- und sozialistisch-libertäre Partei), seit 1994 "Sardigna Natzione".

Die "Indipendèntzia Repùbrica de Sardigna" (Unabhängige Republik Sardinien) ist eine soziale Bewegung mit ähnlichen Zielen wie Sardigna Natzione. Anders als der Name vermuten lässt, strebt sie keine staatliche Unabhängigkeit an. Sie kämpft gegen Mülltransporte nach Sardinien u. das militärische Versuchsgebiet Perdasdefogu-Salto di Quirra, Bauspekulation u. setzt sich für die sardische Landwirtschaft u. Viehzucht ein.

Die "Rossimori" (Rote Mohren) spalteten sich 2009 vom PSd'Az wegen dessen Koalition mit Berlusconi ab und zogen bei den Wahlen im selben Jahr mit 2,5 Prozent und einer Abgeordneten ins Regionalparlament ein. In den Provinzen Sassari und Nuoro schnitten sie mit 4,2 bzw. 3,5 Prozent besser ab.

Der "Partito dei Sardi", gegründet 2013, tritt für die staatliche Unabhängigkeit und Emanzipation Sardiniens in einem Europa der Völker ein. In der letzten Legislaturperiode war sie im Regionalparlament vertreten und stellte mit Paolo Maninchedda den Minister für öffentliche Arbeiten.
Zuletzt geändert von Su Corvu am 28.05.2020, 15:39, insgesamt 40-mal geändert.
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Carlo
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Re: Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Carlo »

Das ist eine interessante Frage, die wir auch schon öfter mit sardischen und italienischen Freunden diskutiert haben. Ich habe da keine abschliessende Meinung und schon gar keine professionelle Bewertungskompetenz - mein Eindruck ist jedoch, dass es zumindest heute mehr um Autonomie als wirkliche Unabhängigkeit geht.

Wer sich einlesen will - es gibt neben zahlreichen öffentlich zugänglichen Quellen (einfach googeln) die einige Aspekte dieser Frage bis hin zu „Sardinien, ein Kanton der Schweiz?“ abhandeln auch eine Diplomarbeit angefertigt an der Uni Mainz:

https://www.grin.com/document/32942

Ich will diese hier nicht öffentlich einstellen, wer wirklich daran interessiert ist, bitte ein PN an mich mit einer E-Mail-Adresse, dann schicke ich eine persönliche Kopie.

Ansonsten bin ich auf weitere Einlassungen von Günther gespannt.

Gruß Carlo
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Re: Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Su Corvu »

Carlo schrieb, "mein Eindruck ist jedoch, dass es zumindest heute mehr um Autonomie als wirkliche Unabhängigkeit geht".
Das ist wirklich eine spannende Frage. Alles hängt eigentlich davon ab, was man unter "Autonomie" versteht.

Sardinien ist offiziell eine autonome Region der italienischen Republik. Zum 70. Jahrestags schrieb ich 2018 andernorts dazu
"Vor siebzig Jahren erhielten 5 der 20 Regionen, darunter Sardinien, ein Sonderstatut, üblicherweise als "Autonomie-Statut" bezeichnet. Heute nahm aus diesem Anlass der italienische Staatspräsident Matarella an einer Sondersitzung des sardischen Regionalrats in Cagliari teil. Die Umsetzung der mit dem Sonderstatut verbundenen Kompetenzen verlief allerdings sehr unterschiedlich: Im Bildungsbereich z.b. ist in Südtirol (Alto Adige) der Besuch von Schulen mit Unterricht in den drei Sprachen der Region garantiert: Deutsch, Italienisch und Ladinisch. Ähnlich im Aosta-Tal (Französisch und Italienisch). Auf Sardinien ist auch nach 70 Jahren nichts davon realisiert: Es gibt keine einzige öffentliche Schule, in der auf Sardisch und Katalanisch unterrichtet wird."

"Vier der fünf Regionen mit Sonderstatut wurden von der Verfassunggebenden Versammlung im Jahre 1948 geschaffen: Sizilien und Sardinien auf Grund der starken Autonomiebewegung (auf Sizilien war der Separatismus in der Nachkriegszeit besonders ausgeprägt), das Aostatal zum Schutz der franko-provenzalischen Minderheit, Trentino-Südtirol, damals Trentino-Tiroler Etschland, zum Schutz der deutschsprachigen Minderheit im Einklang mit dem Pariser Abkommen" (Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Politisches_System_Italiens)

Soweit zur rechtlich-formalen Seite. Was bedeutet "Autonomie" inhaltlich? Wenn man im Duden nachschlägt, findet man zahlreiche Definitionen von "Eigenstaatlichkeit" bis "Selbstbestimmung". Der Begriff ist also eine Worthülse.
Die Forderung nach Eigenstaatlichkeit haben sich zwei bis drei "sardistische" Mini-Bewegungen auf ihre Fahnen geschrieben. Dieses Thema interessiert im Alltag auf der Insel keinen Menschen, sondern wird nur in kleinen Politzirkeln diskutiert.
Und "mehr Autonomie" zu fordern, ohne auszuschöpfen, was jetzt schon möglich ist, ist doch absurd.
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Su Corvu
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Re: Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Su Corvu »

Bei den Kommunalwahlen auf Sardinien im September sperren sich 3 von 4 Sektionen des Partito Sardo d'Azione in der Stadt Nuoro gegen eine Koalition mit der Lega und den anderen rechten Parteien, die einen Bürgermeister-Kandidaten der Lega nominieren wollen. Der Vorstand der Aktionspartei unter dem Vorsitzenden Solinas droht den Dissidenten jetzt unverholen mit Parteiausschluss.
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Re: Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Su Corvu »

Die Sardische Aktionspartei (Partito sardo d'Azione) ist aus der Allianz EFA-ALE, der politischen Organisation von 46 europäischen Unabhängigkeits- und Autonomiebewegungen mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen worden. Damit verliert sie auch ihren Status als MItglied der Fraktion "Europäische Grüne/Europäische Allianz" im EU-Parlament.
Hintergrund ist die Listenverbindung mit der Salvini-Laga u. den faschistischen "Fratelli d'Italia" in Italien und im sardischen Regionalparlament.
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Re: Die Sardische Aktionspartei

Beitrag von Su Corvu »

Neue sardische Partei "4Moros" gegründet
Dissidenten der Sardischen Aktionspartei haben unter dem Namen 4Moros eine neue sardistische Partei begründet. In einer Pressemitteilung heißt es, "Inspiriert von den Schlüsselwerten des Sardismus u. den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Solidarität u. des Friedens haben wir uns vorgenommen, die Unabhängigkeit des sardischen Volkes auf seinem eigenen Territorium zu bekräftigen". Neben anderen prominenten Ex-Aktionspolitikern nahm auch der frühere Bürgermeister von Posada, Roberto Tola, an der Gründungsversammlung teil-
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