"Mein Ort"

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Su Corvu
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"Mein Ort"

Beitrag von Su Corvu »

Ich eröffne probehalber eine neue Rubrik, in der Hoffnung, dass sich andere anschließen. Inspiriert wurde ich durch eine vor Jahren in der "Zeit" erschienene Folge "Meine Straße", in der Journalisten des Blatts das Milieu der Straße in ihrem Heimatort beschrieben.
brunella.jpg
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Brunella

Das kleine Dorf Brunella liegt an der Nordostküste Sardiniens im bergigen Hinterland des Küstenstädtchens Budoni, gehört aber zur Gemeinde Torpè. Zur Zeit wohnen im Ort um 300 Einwohner, ein Drittel mehr als noch vor 40 Jahren. Geografisch-kulturell liegt das Dorf in der oberen Baronia, direkt an der Grenze zur unteren Gallura. Das spiegelt sich auch in der Sprache wider, im Dorf spricht man im Alltag "Logudorese", wie in der ganzen Provinz Nuoro, in den östlichen, zu Budoni gehörenden Nachbardörfern "Gallurese", die Sprachgruppen verstehen sich untereinander, in "gemischten" Familien werden beide Varietäten benutzt, auch von den Kindern, die sozusagen dreisprachig aufwachsen.

Zur Geschichte: Die Gegend war bereits in prähistorischer Zeit besiedelt, wie archäologische Funde zeigen. Aus der Bronzezeit stammen die Überreste von "Gigantengräbern" und "Feenhäusern" (Domus de Janas) und einiger Nuraghen, darunter die von San Pietro bei Torpè. Im 12. Jahrhundert war das Territorium Teil des Judikats (Richtertums) Gallura mit Posada als Verwaltungssitz. Die Siedlung "Villa de Stellaria" wird urkundlich erstmals Anfang des 14. Jh. im Steuerkataster der Seerepublik Pisa erwähnt, zu der Sardinien ab 1317 gehörte. Der Ort lag seinerzeit ca. 2 Km entfernt östlich vom heutigen Dorf in 300 Meter Höhe in der Gemarkung San NIcola. Zeugnisse sind die Überreste einer Kirche und ein Brunnen*. Stellaria war ein für damalige Verhältnisse relativ großes Dorf und zählte (nach dem Zensus von 1317/1318) 26 "Fuochi" (Feuerstellen, gleich Familien mit durchschnittlich 5 Personen) , also 130 Einwohner. Die Bewohner waren Hirten, Jäger, Waldarbeiter und Köhler.

Warum San Nicola später von den Bewohnern aufgegeben wurde, ist nicht bekannt. Das heutige Dorf wurde im Jahr 1815 von Wanderhirten aus Buddoso gegründet*, darunter waren die Vorfahren meiner Frau aus der dortigen Familie Bacciu.

Bis in die 1960er Jahre lebten die Menschen überwiegend von Viehzucht und Landwirtschaft, viele Männer
wanderten aber auf der Suche nach Arbeit aus, überwiegend nach Deutschland ins Ruhrgebiet, daher sprechen einige Ältere auch Deutsch. Nach der Kohle- und Stahlkrise kehrten die Auswanderer mit ihren oft deutschen Frauen nach Brunella zurück. Eine der Frauen ist R., sie ist bereits 1977 mit ihrem sardischen Mann aus dem Ruhrgebiet nach Sardinien gekommen, als dieser seine Arbeit in einer Zeche verloren hatte. lebt also seit 43 Jahren auf Sardinien. In Deutschland hatte sie eine Ausbildung als Industrieschneiderin. Sie fühlt sich auf der Insel und in ihrem Dorf rundum wohl, „sehr! Es gefällt mir persönlich hier“, sagt sie im Gespräch.

In den 1970er Jahren des Feriensiedlungs-Baubooms an der Küste, vor allem zwischen San Teodoro und der Costa Smeralda, arbeiteten viele Männer auf den Baustellen - die früheren Hirten wurden also in nur knapp zwei Jahrzehnten zu Industrie- und dann zu Bauarbeitern - ein einzigartiger Transformationsprozess eines archaischen Berufs und einer pastoralen Gesellschaft in die Arbeitswelt der Moderne.

Wovon leben die Mensche hier? Heute gibt es im Dorf nur noch vier Familien, die Schafe, Ziegen oder Kühe im Nebenerwerb halten. Um 90 der rund 120 Personen im erwerbsfähigen Alter haben Arbeit, 30 sind arbeitslos und auf der Suche nach Arbeit. Selbständig arbeiten nur 3 Personen als Elektriker. Geometer oder Architekt, einer besitzt ein B&B. von der Landwirtschaft lebt nur eine junge Frau, die sich mit dem Anbau von Biogemüse und -obst eine Existenz geschaffen hat. Die Schmiede ist seit Jahren geschlossen, eine Frau betreibt den letzten Lebensmittelladen, eine andere die Bar mit Pizzeria. Der Rest arbeitet außerhalb des Dorfes, entweder im Tourismussektor, der Gastronomie oder in Werkstätten und Supermärkten. Nur eine Handvoll hat feste Stellen in der Gemeindeverwaltung, bei der Forestale oder im Krankenhaus. Von den Akademikern arbeiten 5 als Ärztinnen auf dem Festland. einer hat eine Praxis in Budoni.

Die wichtigsten Ereignisse im Alltags im dörflichen Leben sind die Feste und Feiern: An Weihnachten Apefana für die Kinder, Ostern, die Kirchweihe und die Sagra del Mirto, und dann Ferragagosto. Und natürlich die Hochzeitsfeiern im Hotel, die Begräbnisse, an denen das ganze Dorf teilnimmt. Am Tag des Sterbens versammeln sich Verwandte und Freunde in dessen Haus, und nach dem Gottesdienst zieht sich der Trauerzug von Brunella bis zum Friedhof in Talavà. Das Essen bereiten die Nachbarn zu. Die Orte des sozialen Lebens sind die Kirche und die Bar. Zum kulturellen Leben gehören aber auch der Fussballverein, die Tanzgruppe, der sardische Männerchor und die Veranstaltungen im "Kulturzentrum" in der ehemaligen Schule. Dort werden sporadisch Lesungen, Filmvorführungen, Yogakurse und pflanzenkundliche Exkursionen angeboten, und einmal im Jahr der Tag der Umwelt, sprich Großreinemachen im Dorf. Im Zentrum trifft sich auch die örtliche Gruppe des Aktionsbündnisses zur Verbesserung der Wasserversorgung in der Baronia.

Im Zusammenleben spielt Nachbarschaftshilfe traditionell eine große Rolle, es gibt auch noch Tauschwirtschaft, etwa "Mirto gegen Wildschwein". Die Menschen im Dorf sind Fremden gegenüber aufgeschlossen, seien es Immigranten oder unsere Feriengäste, die sich immer wundern, wie schnell sie Kontakt zu den Einheimischen finden, egal ob auf der Straße, im Lädchen oder der Bar - natürlich besonders, wenn sie kleine blonde Kinder haben. Auf der anderen Seite bringt die dörfliche Enge auch Gerüchte und Konflikte mit sich, Missgunst und jahrzehntelange Feindschaften blühen.

Wie fühle ich mich im Dorf? Die Menschen sind zwar zurückhaltend, aber meist viel freundlicher als in Deutschland. Besonders schätze ich die Lebensqualität hier: Angenehmes Meeresklima, ein kurzer Winter, saubere Luft und völlige Ruhe (unser Haus liegt in freier Natur auf unserem großen Grundstück). Meine Erfahrungen mit Ämtern, Behörden und dem Gesundheitssystem sind recht unterschiedlich. Mit den Ämtern der Kommune haben wir fast ausschließlich sehr negative Erfahrungen. Möglicherweise sind die Angestellten dort wenig kompetent. Anträge werden nicht bearbeitet, auf Beschwerden kommt keine Antwort. Das ist lästig. Die Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem sind eher positiv, die Ärzte sind genau so gut oder schlecht wie in Deutschland, sind aber häufig nicht kommunikativ. Unangenehm sind die langen Wege, ohne Auto ist man aufgeschmissen. Wenn ich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus nach Nuoro muss, ist der Tag weg.
Fehlt mir was hier? Aus Deutschland vermisse ich außer Kleinigkeiten nichts. Zum Beispiel sind manche Zutaten zu „deutschem“ Essen gar nicht oder nur schwer zu bekommen. Würstchen oder scharfen Senf, Leberwurst, Bauernbrot, auch bestimmte Gewürze und Gelierzucker müssen wir uns aus Deutschland mitbringen lassen. Auf die Nerven gehen mir Klatsch in der Großfamilie, Unpünktlichkeit, Verabredungen die nicht eingehalten werden, und natürlich der Fahrstil mancher Autofahrer. Schlimm finde ich auch die Angewohnheit vieler Familien, Plastikgeschirr zu benutzen. Fazit: Ich habe die Auswanderung und meine Frau die Rückkehr nie bereut.

* Zum Weiterlesen für besonders Interessierte. Die beiden Bände können bei mir ausgeliehen werden:

Enrico Deledda: Villa de Stellaria. San Nicola di Brunella (Torpè) nel tardo Medioevo. Editore Thaphros, Olbia 2018. 87 S., 12 € (Mit vielen Fotos u. 3 Karten des Territoriums)
Pierino Bacciu: Brunella nel Tempo. Momenti di Vita. Siniscola 1994. (Chronik der Familien seit Ende des 18. Jh. bis in die Gegenwart mit Fotos).
Zuletzt geändert von Su Corvu am 04.05.2020, 19:16, insgesamt 1-mal geändert.
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Su Corvu
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Su Corvu »

"Ich eröffne probehalber eine neue Rubrik, in der Hoffnung, dass sich andere anschließen"

Schade, dass sich diese Hoffnung bisher nicht erfüllt hat - gibt es im "Home-Office" nicht noch etwas Luft?
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von futurestyling »

Würde gerne was einstellen, habe aber keinen speziellen Ort.Da ich auf Sardinien nicht wohnhaft bin,lediglich 2-4 Monate im Jahr,komme ich sehr viel herum und möchte keinem Ort den Vorzug geben. Mir gefällt es überall, jede Gegend und jeder Ort hat seine speziellen Reize.
Das hier keiner,außer dir berichtet, verwundert mich auch,da ja viele Forumsmitglieder Wohnungs- bzw. Hausbesitzer sind und sicherlich Interessantes über ihren Wohnort berichten könnten.Wahrscheinlich auch über die "normalen" Ortsinfos hinaus,sozusagen aus Insiderkreisen mit privaten Erfahrungen.
Aber vielleicht wird's noch,Zeit wäre ja genug momentan.
LG,Helmut
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Luna sarda
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Luna sarda »

Ich habe nie genug Zeit, arbeite tagsüber bei schönem Wetter meist im Garten und wohne auf dem Land, einige Kilometer ausserhalb der umliegenden 4 Gemeinden. Wirklich zugehörig finde ich mich in keiner (daher auch kein Insiderwissen), da ich höchstens zum Einkaufen in den Orten bin. Ansonsten treffen wir uns privat mit Freunden, die verstreut in dieser Gegend auch auf dem Land leben., also mal hier, mal dort.
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Su Corvu
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Su Corvu »

Das verstehe ich natürlich, aber "Mein Ort" muss ja keine Kommune sein, sondern ebenso Deine sozio-kulturelle Lebenswelt in der Region.
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Tine
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Tine »

mir gefällt die aufgemachte rubrik sehr. vielleicht sind wir im sommer in unseren neuen zuhause + können über unseren ort schreiben?
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Su Corvu
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Su Corvu »

Tine hat geschrieben: 06.05.2020, 16:20mir gefällt die aufgemachte rubrik sehr. vielleicht sind wir im sommer in unseren neuen zuhause + können über unseren ort schreiben?
Hallo Tine,
danke für Deine Rückmeldung!
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Luna sarda
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Luna sarda »

Jetzt habe ich aber eine schwere Aufgabe bekommen - meine sozio-kulturelle Lebenswelt in der Region zu beschreiben, uff!
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Su Corvu
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Su Corvu »

Ja, eine etwas umständliche Formulierung, aber gemeint ist eben daß "Ort" über die üblichen Daten hinaus meint, wie Du dort Deinen Alltag erlebst.
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Luna sarda
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Re: "Mein Ort"

Beitrag von Luna sarda »

Hab schon verstanden😊 arbeite bereits daran☺
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